TEHERAN, Jul. 19 (MNA) – Der kanadische Journalist und Experte des Nahen Ostens, Zentralasiens und Russlands meint, dass die türkische Version der sozialen Medien den „Arabischen Frühling“ in der Türkei anspornte.

Der kanadische Nahostexperte Eric Walberg ist der Meinung, dass die Rolle der sozialen Medien in der Türkei entscheidend war für die Mobilisierung einer breiten Öffentlichkeit, die innerhalb weniger Minuten auf die Straßen strömte, um den Präsidenten Erdogan zu unterstützen.

„Glücklicherweise  für Erdogan, war  das Militär anders als in Ägypten nicht so monolithisch wie in kemalistischen Zeiten, in denen es von einem rücksichtslosen General angeführt war, der eifrig daran arbeitete, die herangewachsene Demokratie zu zerquetschen“, sagte er. Walberg betonte, dass die türkische Version der sozialen Medien den spezifischen türkischen „Arabischen Frühling“ anheizte.

In einem Interview mit Mehr News, beantwortet Eric Walberg Fragen zum Thema.

Wer sind Ihrer Meinung nach die tatsächlichen Haupttäter des versuchten Putschs in der Türkei?



Die Auswirkungen des Putschversuches vom 15. Juli halten an. 260 Menschen wurden getötet und 1.400 verletzt. Verhaftet und vom Dienst suspendiert wurden:
* Ein Drittel der 360 türkischen Generäle  
* 257 Beamte im Büro des Ministerpräsidenten, inklusive Erdogans Flügeladjutant
* 50.000 Soldaten, Polizisten, Richter, zivile Beamte und Lehrer
* 500 Menschen bei der Generaldirektion für religiöse Angelegenheiten,
* Die Akademiker erhielten ein Ausreiseverbot, um die Gefahr zu vermeiden, dass mutmaßliche Putschisten an den Universitäten das Land verlassen können.

Das Gefühl von Unbehagen, Unzufriedenheit und fehlenden Vertrauens gegenüber Erdogan nahm seit seiner Entscheidung zu, die Türkei in den syrischen Aufstand von 2012 zu involvieren. Dies diente als Nährboden für den Terrorismus und die Flüchtlinge und öffnete diesen auch die Tore der Türkei. Der Putsch war eine erwartete Katastrophe, obwohl Erdogan im Laufe des letzten Jahrzehnts immer in der Lage gewesen war, das Militär unter Kontrolle zu halten.

Er brach eine Brücke nach der anderen hinter sich ab – Israel, Syrien, Russland, die Kurden und den Westen. Vor dem Putschversuch wurde ihm am Ende bewusst, dass seine Handlungen gescheitert waren und dass es nötig war, das Gemetzel, die Flüchtlinge und die Feindseligkeiten um ihn herum einzudämmen.

Der Funke des Putschs soll von einer kleinen Gruppierung des Generalstabs, von Anhängern des einflussreichen Predigers Fethullah Gülen, gezündet worden sein. Sie zählten auf die Teilnahme anderer Erdogans überdrüssigen Offizieren und erwarteten nicht Hundertausende von Menschen, die innerhalb weniger Minuten auf die Straßen strömten, um den belagerten Präsidenten zu unterstützen. Der Putsch scheiterte aber erst nach 60 Todesopfern.

Erdogan hat seit seiner Machübernahme im Jahre 2003 schon mehrere Säuberungen hinter sich, um die Türkei von der Atatürk-Tradition der militärischen Herrschaft zu befreien. Er säuberte die Klasse der Offiziere nach dem Massenprozess mutmaßlicher Verschwörer, die als terroristische Organisation Ergenekon, einer Splittergruppe der Operation Gladio der CIA, bekannt ist. Es war aber kein weiser Schachzug, sich in der Justiz auf die Anhänger von Gülen zu verlassen.

2011 wurden mehr als 500 Menschen verhaftet. Die meisten von ihnen kamen frei. Es stellte sich heraus, dass viele gerichtliche Dokumente gefälscht waren. Aber Ergenekon und Gladio sind kein Fake. Die bedenkliche Ergenekon-Ermittlung und die Korruptionsermittlungen, die auch von Anhängern Gülens geleitet wurden und Erdogans Sohn Bilal zum Ziel hatten, führten 2013 zu einem scharfen Vorgehen gegen die Gülenisten. Jetzt wird es ernst, und die Gülenisten in der Verwaltung hatten ihren guten Grund, um sich mit anderen Erdogan-Verdrossenen zu verbünden.

Aber der „tiefe Staat“ hinter dem Putsch besteht nicht nur aus den Überbleibseln von Ergenekon und den Gülen-Rivalen von Erdogan. Der Arbeitsminister Süleyman Soylu teilte Haberturk TV Folgendes mit: „Die USA stecken hinter diesem Putschversuch. Verschiedene US-Zeitungen haben über mehrere Monate daran gearbeitet. Wir fordern seit Monaten von den USA die Auslieferung von Fethullah Gülen. Die USA müssen ihn ausliefern.“

Eine der Zeitungen, auf die sich Soylu bezieht, ist unter anderem die Webseite des American Enterprise Institute, wo im März ein Artikel von Michael Rubin mit dem Titel „Könnte es in der Türkei zu einem Putsch kommen?“ veröffentlicht wurde. Darin wurde Erdogans Schicksal mit dem des gestürzten ägyptischen Präsidenten Morsi verglichen. Eine andere dieser Zeitungen ist die   Washington Post, in der ein Gastkommentar des ehemaligen US-Botschafters in der Türkei, Eric Edelman, Erdogan aufforderte, „Reformen einzuleiten oder zurückzutreten.“

Könnte es sein, dass Rubin und Edelman und ihresgleichen sogar die Bequemlichkeitsverbündeten des Islamischen Staats dazu auffordern, terroristische Bombenanschläge in Istanbul und Ankara zu verüben, um dem nervösen Militär einen Vorwand für einen Putsch zu liefern? Ist denn der Putsch ein neokonservatives Mittel der „sanften Macht“, um in der Türkei einen biegsameren Präsidenten an die Macht zu bringen?

Welcher ist Ihrer Meinung nach der Grund für die frühzeitige Unterdrückung des Putsches? Warum gelang es, dem Putsch sofort entgegenzuwirken?

Glücklicherweise  für Erdogan, war  das Militär anders als in Ägypten nicht so monolithisch wie in kemalistischen Zeiten, in denen es von einem rücksichtslosen General angeführt war, der eifrig daran arbeitete, die herangewachsene Demokratie zu zerquetschen. Und die sozialen Medien spielten eine entscheidende Rolle in der Mobilisierung der breiten Öffentlichkeit innerhalb von Minuten, um die Leute auf die Straßen zu holen. „Es gibt keine größere Macht als die des Volkes“, ermahnte der Präsident im Staatsfernsehen, während seine Anhänger gegen die Meuterer an den Barrikaden kämpften. Die türkische Version der sozialen Medien heizte den eigenen türkischen „Arabischen Frühling“ an.

Welche positiven oder negativen Auswirkungen hat der gescheiterte Putsch auf die Zukunft der Türkei, auf Erdogans Regierung und auf das Militär selbst?

Die Zukunft der Türkei ist nach 15 Jahren Kontrolle immer noch in Erdogans Händen. Aber die Zukunft sieht nicht rosig aus. Rückblickend ist der Drehpunkt in einer bereits chaotischen internationalen Lage der ursprüngliche „Arabische Frühling“ von 2011. Bis zu jenem Zeitpunkt erschien der charismatische Erdogan wie ein neues Gesicht der muslimischen Welt: ein schlauer, kluger Mann, der dem Imperium (den USA und auch Israel) strotzte und versuchte mit dem Schreckgespenst der Türkei, den Kurden und deren Partei, der PKK, Frieden zu schließen.

Aber ob nun durch Hybris oder Pfusch, scheiterten diese Vorhaben. Seine „Null-Probleme“-Politik mit den Nachbarn wendete sich in sein Gegenteil. Denn die Türkei ist nicht von Freunden, sondern nur von Feinden umgeben.

2011 kehrte er in Libyen Muamar Gaddafi den Rücken und 2012 seinem „Freund“ Bashar Assad. Libyen wurde zu einem gescheiterten Staat und zu einem Zufluchtsort für Terroristen. Assad wurde dazu gebracht, seine militärische Macht gegen eine kunterbunte Gang von al-Qaeda und naiven Verwestlichern zu nutzen, um zu vermeiden, dass Syrien dasselbe Schicksal trifft.

Aber Erdogan setzte auf das falsche Pferd. Assad hatte sich geweigert, auf den Rat seines Freundes Erdogan zu hören und den syrischen Staat zu teilen und der Opposition die Macht zu übergeben, die inzwischen immer mehr von al-Qaeda Gruppen beherrscht war und heute vom sogenannten Islamischen Staat angeführt wird; wobei dieser Islamische Staat weder ein Staat noch islamisch ist. Assad weigerte sich, dem Westen zu vertrauen, der ihn von Anfang an schon im Blickfeld behielt.

Die syrische Revolution, wurde im Unterschied zu Tunesien und Ägypten  todgeweiht, weil sie vom lybischen Beispiel gelernt hatte und das Militär auf Assads Seite stand. Seitdem geht es für die Türkei bergab. Russland verlor die Geduld, weil der Westen ein solches Chaos veranstaltet hatte und nun auch von der Türkei unterstützt wurde. So entschied sich Russland einseitig, sich Iran anzuschließen, um Assad zu unterstützen und die Siege des IS rückgängig zu machen. Dies erfolgte in einem verblüffenden Wechsel gezielter Bombenangriffe, die die USA und ihre Verbündeten wortlos und schließlich erleichtert und gleichzeitig undankbar ließen.

Der Höhepunkt kam mit dem Abschuss der russischen Flugzeuge durch Erdogan, ein unwichtiges Ereignis, angesichts der wahren Krise der syrischen Flüchtlinge. Sie waren das Ergebnis seiner eigenen Handlungen. Sie strömten zusammen mit den Terroristen in die Türkei. Als dann der Islamische Staat die implizite Unterstützung Erdogans verloren hatte, gelangten seine Selbstmordattentäter nach Istanbul und Ankara.

Der Verzicht Erdogans auf Assad wiederholt die Untergrabung durch die USA des letzten afghanischen Führers Najibullah im Jahre 1992. Diese führte zur Stärkung der Taliban und al-Qaeda, dem Islamischen Staat von damals. Die Syrer erfahren nun die Wiederholung des Kollapses von Afghanistan, mit Millionen von Flüchtlingen, einem falschen „Islamischen Staat“ und dem doppelten Spiel des Westens. Der Unterschied besteht nur darin, dass diesmal die Türkei an Bord der Verschwörung ist und es Russland überlassen wird, das Chaos wieder aufzuräumen.

Die Überbleibsel der Kemalisten werden das Militär verlassen. Das ist aber keine rosige Zukunft. Wie konnte Erdogan einen solchen Fehler begeben?

Welche Faktionen und Parteien in der Türkei könnten vom Putsch profitieren und welche nicht?

Die Gülenbewegung, die in der Vergangenheit mit Erdogan verbündet war und hinter dem Putsch steht, hat einen großen Verlust erlitten. Viele Schulen der Bewegung und ihr gesamtes Vermögen wurden beschlagnahmt und ihre Mitglieder verhaftet. Der Putsch hat Gülens Bewegung das Genick gebrochen.

Infolge der vom Himmel gesendeten Atempause der letzten Woche erfindet sich Erdogan nun neu und kehrt zu seinem Versprechen von 2003 bezüglich der „Null-Probleme“ mit den Nachbarn zurück. Er entschuldigte sich bei den Russen, klärte schnell die Missverständnisse mit Israel und verzichtete auf jeglichen Wunsch, ein Übereinkommen mit den Gruppierungen des Islamischen Staates zu erzielen. Er sendet sogar Friedenssignale nach Ägypten, obwohl es kein Übereinkommen mit dem ägyptischen Putschisten geben wird.

Vielleicht werden ihm seine wichtigsten Nachbarn, die Kurden, nach so langem Leid eine günstige Gelegenheit verschaffen, obwohl er dort so hart durchgegriffen hat. Sogar als Erdogan 2013 seinen Angriff gegen die Gülenbewegung startete, sah es so aus, als würde diese blutende Wunde der türkischen Gesellschaft am Ende heilen. Nach den Friedensangeboten auf beiden Seiten, hielt Abdullah Öcalan eine Ansprache aus dem Gefängnis und forderte die militanten Anhänger der PKK, ihre Waffen niederzulegen oder diese in den Nordirak zu bringen.

Die syrischen und türkischen Kurden haben unter Beweis gestellt, die einzigen verlässlichen Gruppen vor Ort zu sein, die den Biss haben, gegen den Islamischen Staat zu kämpfen und dies auch tun werden. Und es waren sie, die es sogar geschafft haben, den wütenden Erdogan gegen seine westlichen Verbündeten zu stellen. Nun ist Erdogan aber darum bemüht, diesen syrischen Albtraum irgendwie zu beenden. Der Putsch ist eine zeitgemäße Fanfare, die aufruft, gegen den gemeinsamen Feind, den Islamischen Staat, zu kooperieren. Erdogan, Kurden, Russen, Iraner und --verspätet—auch der Westen sind auf dieselbe Seite geschoben worden.

Der gescheiterte Putsch hätte nicht zu einem besseren Zeitpunkt kommen und scheitern können. Erdogan wollte eine militärische Offensive gegen den Präsidenten Assad in Syrien starten. Er wurde aber selbst geputscht. Aber er wurde verschont. Wird Erdogan nun in der Lage sein, das weise zu nutzen? Ein türkisches Sprichwort lautet: „Egal, wie weit du den falschen Weg gegangen bist, kehr um.“

Tlaxcala
Translated by  Milena Rampoldi ميلينا رامبولدي میلنا رامپلدی Милена Рампольди

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Canadian Eric Walberg is known worldwide as a journalist specializing in the Middle East, Central Asia and Russia. A graduate of University of Toronto and Cambridge in economics, he has been writing on East-West relations since the 1980s.

He has lived in both the Soviet Union and Russia, and then Uzbekistan, as a UN adviser, writer, translator and lecturer. Presently a writer for the foremost Cairo newspaper, Al Ahram, he is also a regular contributor to Counterpunch, Dissident Voice, Global Research, Al-Jazeerah and Turkish Weekly, and is a commentator on Voice of the Cape radio.

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